„Alles fließt“ – Heraklit
Wer sich der Kunst von Peter Vogel nähert, muss mit einer Reaktion rechnen. Seine Objekte klingen und leuchten. Sie klopfen und schlagen. Sie locken zum Spiel, in dem die „besten Kräfte des Menschen aktiviert, seine Phantasie angeregt, seine Kraft mobilisiert“ werden. Die Objekte sind ihrerseits auf den Dialog mit der Außenwelt angewiesen: Aus Draht, Widerständen, Transistoren, Kondensatoren, Relais, Motoren, Magneten, Lampen, Lautsprechern, und Photozellen gebaut, reagieren sie auf Schatten und Schall. Auch wenn sie in ihrer filigranen und vielseitigen Gestaltung als Objekte faszinieren, so folgt ihre Form in der Regel doch ihrer Funktion, das heißt ihrer individuellen, einzigartigen Reaktionsfähigkeit. Ohne Kommunikation sind sie leblos und stumm. Diese Wechselwirkung aus Empfangen und Hervorbringen ist zentral im Werk von Peter Vogel; der Verschiebung des Objektstatus des Kunstwerks hin zu einer Prozessästhetik liegt das Denken des Seins als ständige Erfüllung in der Vielfalt des Werdens zugrunde.
Werden und Prozess haben von Anfang an im künstlerischen Schaffen eine Rolle gespielt. Beeinflusst von Tachismus und Action Painting, ging es Peter Vogel in seiner Malerei der frühen 1960er Jahre um die Visualisierung von Tanz, Musik und körperliche Erfahrung; seine Bilder betrachtete er als „Bewegungspartituren“. Parallel dazu experimentierte er mit seinem Tonbandgerät mit Rückkoppelungen und der Überlagerung von Klängen. Doch Zeit ist nicht nur Metapher und Material sondern sie ist zur konstitutiven Größe im Oeuvre von Peter Vogel geworden. Eine Rolle spielte zweifelsohne seine Tätigkeit als Physiker, die er zeitweise parallel zu seiner künstlerischen Arbeit ausübte. In wissenschaftlichen Experimenten im Grenzgebiet von Medizin und Technik hat er sich eingehend mit Hirnforschung und Kybernetik beschäftigt. Infolgedessen sind erste reaktionsfähige Objekte entstanden – schleudernde Schläuche, sich aufblasende Gummihandschuhe, aufleuchtende Lampen -, die er bis 1970 als Elemente in seine abstrakte Malerei integrierte. Wenn auch der Prozess bereits in den Vordergrund rückte, so wurde Zufall noch nicht als konstitutive Größe verstanden. Zufall, das war für den Künstler und Wissenschaftler, der damals noch dem deterministischen physikalischen Weltbild verhaftet war, lediglich die subjektive Beschreibung eines noch nicht verstandenen kausalen Ablaufs.
Der eigentliche Durchbruch, der Peter Vogel zu einem der Pioniere der interaktiven Kunst auszeichnet, ging mit einem Paradigmenwechsel einher: der Loslösung von der Malerei und der Freilegung der Technik. Mit der Machina speculatrix aus dem Jahr 1969 schuf er, angelehnt an ein Experiment des Neurophysiologen William Grey Walter, sein erstes rudimentäres offenes System: eine kleine, mit Sensoren ausgestattete bewegliche Maschine, die in der Lage war, auf die Umwelt zu reagieren. Sie konnte ein Areal abtasten sich innerhalb dieses abgesteckten Feldes bewegen und so einen Absturz vermeiden. Die in Folge entstandenen „kybernetischen Objekte“ waren künstliche Einzeller, elektronische Nachahmungen von Verhaltensmustern bekannter oder imaginierter Systeme. Jedes Objekt besaß ein definiertes Verhaltensrepertoire, eine elementare Form von Gedächtnis, einen eigenwilligen Charakter. So bezieht das Objekt Bedürfnis aus dem Jahr 1973 das Streben nach Aufhebung eines Mangelzustands ein, das in der Psychologie „negative Habituation“ genannt wird. Das Objekt wurde durch Schatten zum Tönen gebracht, bei „Nahrungsentzug“ begann es als Gegenstrategie auf Raumgeräusche zu reagieren.
Seitdem erschafft Peter Vogel informationsverarbeitenden offene Systeme, die durch einen Auslöser (Reiz, Input) beeinflusst werden und von einem Zustand in einen anderen übergehen. Adaption, Koinzidenz, Aleatorik, Feedback – das ist das, was das Werk im Inneren zusammenhält. Die Sensoren sind dabei die spezialisierten Zellen, die die Reize aus der Umgebung aufnehmen und in eine neuronal vergleichbare Form überführen. Während beim Feedback ein Teil der Ausgangsgröße auf den Eingang des Systems zurückgeführt wird, führt Adaption zu einer Anpassung an die äußeren Umstände, zu einer Verhaltensänderung der Objekte. In diesem Sinne handelt es sich bei Peter Vogels Kunst um Autopoiesis – um einen Prozess der Selbsterschaffung und Selbsterhaltung.
Die Vielfalt des Werdens, die Komplexität des Seins, die Unvorhersagbarkeit der Ereignisse – diese Ansätze setzten auf den Zufall als schöpferisches Prinzip. Doch Zufall ist nicht gleich Zufall. Was hier interessiert, sind seine unterschiedlichen Erscheinungsformen im Werk von Peter Vogel. Bereits 1970 entstand das Aleatorische Triplett. Waren die sich drehenden Metallstreifen vom Betrachter in Gang gesetzt konnte das mechanische Objekt sich selbst stimulieren und bedingt durch die Eigendynamik der Rückkopplungsprozesse – auf unberechenbare Weise verhalten. Obwohl Zufall also schon früh eine Rolle spielte, thematisierte Peter Vogel dieses Gestaltungsprinzip erstmals ganz bewusst in der Arbeit Zufall oder Notwendigkeit im Jahr 1989. Die Reaktionsstruktur dieses Objekts ist streng deterministisch, trotzdem werden die Klangreaktionen als zufällig wahrgenommen. Ähnlich funktioniert Aleatorische Plastik (Abb.1 ) aus dem Jahr 1992. Tonhöhen, Rhythmen, Tempo und Klangfarben ändern sich für den Akteur im Dialog auf unvorhersehbare Weise. Dabei weist der Charakter der Reaktion eine so wechselhafte wie veritable Bandbreite auf, die von ruhig oder nervös, wehmütig oder lustig, laut oder leise, tonal und atonal reicht. Eine weitere Variante ist Selection (Abb.2) aus dem Jahr 2014. Hier löst jeder Stimulus eine kurze, sich wiederholende Sequenz aus, weitere Stimuli beeinflussen Tonhöhe und Rhythmus. Bei Verlorene Melodien (Abb.3) aus dem Jahr 2015 hat jedes der neun Xylophon-Elemente einen Klöppel. Werden ein Sensor oder beide Sensoren stimuliert, löst dies eine Tonfolge aus, die bei jedem neuen Schattenwurf variiert wird. Die Variationsmöglichkeiten sind zwar endlich, aber extrem hoch – es sind Millionen. Da die Möglichkeit, das gleiche Klangbild wieder zu erzeugen, dadurch sehr unwahrscheinlich wird, wird es als unwiederholbar wahrgenommen, unwiederbringlich vergangen.
Bei Objekten mit diesem Wirkmechanismus spricht der Künstler von „deterministischem Zufall“ (Abb.4): Die Reaktionen sind unvorhersehbar, weil eine automatische Variation im Inneren des Systems stattfindet. Ein und derselbe Impuls kann unterschiedliche Folgen haben, andere Muster auslösen. Der aktuelle innere Zustand bleibt uns verborgen, denn es ist für uns unmöglich, alle Parameter zu kennen (Abb.5). Kleinste, nicht willentlich beeinflussbare Variationen der Ausgangssituation haben einen signifikanten Einfluss auf das Ergebnis, In diesem Sinne spricht die Chaosforschung von deterministisch chaotischen Systemen.
Vom „echten Zufall“ kann im Werk von Peter Vogel dann gesprochen werden, wenn mechanische Elemente integriert werden die chaotische Bewegungen erzeugen, wie zum Beispiel die Klöppel in der Installation Kellerorchester aus dem Jahr 1989. Ein weiteres Beispiel für solche mechanisch erzeugten Zufallsfolgen ist Zither aus dem Jahr 1997 (Abb.6). Wir die Photozelle abgeschattet, schlagen die drei rotierenden Klöppel die Saiten des Instruments an, je nach Impuls auch gleichzeitig. Durch das Herumschleudern der Kugeln entstehen schnelle, aleatorische Tonfolgen. Da sich die Zither darüber hinaus im Laufe der zeit verstimmt, ist das Klangergebnis in ständiger Transformation begriffen und deshalb im doppelten Sinn unvorhersehbar. Bei Kugel-Percussion (Abb.7) aus dem Jahr 2005 wird ein Tischtennisball auf einem waagerecht angebrachten Lautsprecher, der niederfrequente Schwingungen erzeugt, zum Hüpfen gebracht; die Frequenz kann via Stimulus verändert werden. Obwohl die Bewegung der Membran konstant bleibt, gestalten sich die Hüpfer des Balls chaotisch; beim Aufprall entsteht ein perkussives Geräusch mit zufälligem Rhythmus.
Vibrations aus dem Jahr 2008 baut auf einer Kettenreaktion auf (Abb.8). Das Objekt besteht aus einem Kugelmagneten, um den strahlenförmig Metallstäbe angeordnet sind. Wird die Kugel durch Schatten zum Rotieren gebracht erzeugt sie ein Magnetfeld. Die Dauer der Abschattung hat Einfluss auf ihre Drehgeschwindigkeit; bei schneller Rotation werden die Drähte so lange in chaotische Schwingungen versetzt, bis sich die Drähte berühren – es entsteht ein metallischer Klang.
Bei Objekten wie zum Beispiel Zwei ineinander versteckte Tonfolgen (Abb.9) aus dem Jahr 1982 entsteht Zufall dann, wenn determinierte, voneinander unabhängige Systeme in Wechselwirkung treten und sich repetitive Impulsfolgen mit unterschiedlicher Periode überlagern (Abb.10). Aus diesem Zusammentreffen entsteht Zufall. Ähnlich thematisiert wird Zufall im Objekt Hommage à Ligeti aus dem Jahr 2009. Dort überlagern sich sechs Klicks mit unterschiedlicher Impulsfrequenz. Obwohl jeder einzelne streng determiniert tickt, ergibt die Überlagerung, da sie voneinander unabhängig sind, eine schier unendliche Fülle von Zufallsmustern.
Allgemein kann Zufall im Werk von Peter Vogel als Beschreibung dafür gelten, dass eine eingetretene Endsituation keine Begründung in der Ausgangssituation findet. Die Unberechenbarkeit des Ergebnisses gehört zur Grunddynamik des Spiels. Bei gleicher Ausgangssituation kann es ganz unterschiedliche Endsituationen geben: Eine Stimulierung kann einen Ton anschwellen lassen. Sie kann zu einer Veränderung der rhythmischen Struktur oder der Tonhöhe führen. Eine lange Stimulation kann Prozesse anregen oder sie ins Gegenteil verkehren. Beim Versuch, die Mechanismen zu durchschauen, durch Wiederholung und Variation die Wirkungen des eigenen Tuns zu verstehen, befindet sich der Akteur im Zwiegespräch mit dem Objekt, schwankend zwischen empirischer Erkundung und freier Einbildungskraft. Nichtsdestoweniger wirkt sein Verhalten auf das Objekt ein und prägt seine Reaktion: ein sich langsames herantasten hat eine andere Wirkung als eine schnelle Bewegung. Ruhe, Gereiztheit, Scheu oder Neugier finden einen direkten Niederschlag. Die Werke reagieren auf die Außenwelt und führen dabei ein Eigenleben. Sie sind offene Kunstwerke. Der Künstler schafft das Potenzial – ein Potenzial, das sich immer wieder neu und immer wieder anders realisiert.
die Kunst des Zufalls. Zur prozessästhetik im werk von Peter Vogel.
von Nicoletta Torcelli